Fürstlich durch West-Masuren

30.06.2024 | Kategorien: ,

Fahrtenleitung: Łukasz Kaczmarek · Mai 2024
Text und Fotos: Marc Tornow


Startklar in Graudenz: Marc Tornow, Eva Maria Lange, Andrea Lührs und Lars Zimmermann (v.l.)

Mächtig ruhte die Königin

Nicht einmal ein Dutzend Schweinchen vermochten ihren Weg zu stören, und auf ihrer vollkommenen Oberfläche spiegelten sich im Abendrot die Schönwetterwolken. Die Magie der Natur entlang der Weichsel, der „Königin Weichsel“, verhieß auf ihrem Unterlauf ein ganz besonderes Rudervergnügen. Die Vorfreude darauf steigerte sich am Vorabend der großen West-Masurenfahrt immer weiter.


Blick auf die „Königin Weichsel“ mit ihren Sandbänken

Von der mittelalterlichen Festung Culmen hoch am Ufer des längsten polnischen Flusses thronend, war die Aussicht darauf bereits atemberaubend. Bis am nächsten Morgen die Boote endlich an der Marina von Grudziądz zu Wasser gelassen wurden. Wie Blätter in einer Pfütze trieben die sechs Doppelvierer glucksend im Hafenbecken der ehemals Graudenz genannten Stadt – und wurden kurz darauf von der unbändigen Gewalt der „Königin“ erfasst. So ruhig die Weichsel aus der Distanz auch erschien, so sehr wirbelte sie die Boote bei ihrer Befahrung durcheinander. Wechselnde Strömung, Untiefen, aufgeschwemmte Sandbänke mitten im Strom, die im Volksmund „Schweinchen“ genannten Hindernisse, gefährliche Engstellen mit drückender Fließgeschwindigkeit – den Naturgewalten folgend kreuzten die Ruderboote auf ihren ersten 48 Kilometern vom Ost- an das Westufer.


Aufbruch zur ersten Etappe mit Blick auf Grudziądz

Die rostrot geziegelten Mauern von Grudziądz waren längst aus dem Blickfeld verschwunden und hatten gegen das satte Grün der weitgehend unberührten Natur gewechselt. Fast einen halben Tag lang mäanderten die Boote ungestört auf einem Fluss, der unter seiner vollkommen wirkenden Oberfläche viele verborgene Hürden aufwies. Und weit und breit kein Haus, kein Schornstein, keine Mast – nur die Idylle von im Sommerwind kreisenden Seeadlern, Störchen, Reihern und Schwalben sowie das Echo einer bewegten Historie.

Bei der Rast am sandigen Ufer auf Höhe der Ortschaft Nowe erinnerte die polnische Fahrtenleitung um den ruder- und geschichtskundigen Łukasz Kaczmarek an die vielfach verschobenen Grenzlinien seiner Heimat, den Polnischen Korridor zur Ostsee, die von dort einst eingefallen Schweden um König Gustav Adolf, das Kulmer Land, die West- und Ost-Preußischen Ländereien, Kujawien-Pommern, die eigenständigen Kaschuben, Masuren und nicht zu vergessen die einst elitär auf all dies herablassend blickende polnische Aristokratie weiter oben an der Weichsel, im fernen Warschau und Krakau.


Pause an den Ufern der Weichsel

Krachend zuckte ein Blitz vom eben noch blauen Himmel herab. Schwarze Wolkentürmen verdunkelten plötzlich den Tag. Stromabwärts erhoben sich die verwitterten, grauen Betonstümpfe der einstigen Brücke von Opaleniu und Grabówku aus dem Flussbett – von der deutschen Wehrmacht 1944 auf ihrem Rückzug vor der Roten Armee gesprengt. Die Regentropfen fielen wie Perlen vom Himmel herab und zerplatzten silbern auf den Trikots der Ruderleute, die mit fragendem Gesichtsausdruck die Lage sondierten.
Als wäre nie etwas gewesen schlängelten sich die sechs Rudermannschaften im goldenen Nachmittagslicht in einen seichten Stichkanal unterhalb der Ortschaft Gniew in ein geschütztes Bassin voller blühender Seerosen und Schilf. Verfolgt von angriffslustigen Stechmücken konnte man noch einen Blick auf die sonnenbeschienenen Mauern der Burg Mewe von 1276 werfen.


Mitten auf der Weichsel vom Gewitter überrascht

Wie schon die Festung von Grudziądz weiter südlich oder jene von Marienburg weiter im Norden zählte auch dieser Bau zu einer Kette von Verteidigungsanlagen des Deutschen Ordens. Zumindest hier im heute Gniew genannten Ort blieben die Räumlichkeiten der zahlenden Kundschaft vorbehalten: Ein Luxushotel war auf dem ehemals ritterlichen Anwesen eingezogen. Und sein Besitzer, ein Molkereichef, „ein dicker Fisch“, wie es die polnischen Gastgeber formulierten, ließ sich regelmäßig mit dem Hubschrauber aus Warschau hierher einfliegen. Er hatte während der Wendejahre angeblich mit einem strategischen Schachzug der von der Pleite bedrohten Gemeinde die Burg und das Gelände drumherum für ein Trinkgeld abgeluchst.
Nun flanierten im Garten vor imposanten Festungstürmen aus Backstein untergehakte polnische Paare, die entweder in historischen Gewändern als mittelalterliche Burgherren kostümiert oder in elegante Dinnergarderobe gekleidete waren. Sektgläser funkelten im Abendlicht, während die Rudergemeinschaft mit einem Reisebus ein Stück weiter zu einer rustikalen Pension gefahren wurde. Bei Barszcz – einer mit Roter Beete zubereiteten Suppe –, Schweinekotelett, deftigem Bigos – mit Speck und Blutwurst gedünstetem Sauerkraut – und Krupnik kehrten die Lebensgeister zurück.


Blick auf die Marienburg

Von der Weichsel in das Land der Kanäle

Die Kräfte waren nötig, um die kommende Etappe zu bewältigen. Sie umfasste mit 31 Kilometern weniger Wegstrecke als zuvor, allerdings drückte ein scharfer Nordostwind frontal auf die sechs Boote. Ganz so als wolle eine ferne Kraft verhindern, dass diese von der Weichsel und durch zwei Schleusen über die Nogat ans Ziel gelangten: Malbork – das ehemalige Marienburg mit der gleichnamigen riesigen Festungsanlage. Unterdessen kletterte das Thermometer auf hochsommerliche Temperaturen, so dass der abendliche Besuch in den massiven Anlagen des ehemaligen „Hochmeisters des Deutschen Ordens“ zu einer staunenswerten Begehung in wohltuend kühl temperierten Gemäuern wurde. Mühelos hätten alle bisherigen Burgen entlang der Ruderstrecke um ein Vielfaches auf dieses Areal gepasst, das alleine aus zahlreichen Basteien, Höfen, Kapellen, Wehrgräben sowie opulenten Audienz- und Speisesälen bestand.


Besuch der Marienburg

„Gustavchen“ hatte ein Einsehen mit der Rudergesellschaft. Aus Nordost – aus Richtung Schweden – blies zwar noch immer ein beständiger Wind, doch sorgte auf der dritten Etappe eine geschlossene Wolkendecke für angenehme Temperaturen. Links und rechts der Strecke tauchten wieder Zeugnisse der Zivilisation auf, Werftanlagen und Dörfer, in denen deutlich sichtbar Spuren einer einst preußischen Vergangenheit durchblitzten: „Restauration von Hugo Neumann“ stand etwa in Sütterlin an der Fassade eines ehemaligen Ausflugslokals, das mittlerweile zu einem Mehrfamilienhaus umgebaut worden war. Dann folgten wieder Auenlandschaften, die mit Waldstücken voller exotischer Vogelarten abwechselten, weit und breit kein Boot außer den sechs tapfer durch aufziehenden Nieselregen steuernden Doppelvierern.
Als nachmittags die Sonne zurückkehrte, standen auch gleich Angler am Ufer und grüßten verdutzt: Ruderbooten waren und sind in diesem osteuropäischen Land immer noch eine Seltenheit. Schließlich tauchte wie aus einer anderen Galaxie herbeigezaubert das Kohlekraftwerk Kogeneracja am Stadtrand von Elbląg auf – und wenige Kilometer weiter die Marina des ehemaligen Elbing. Dort hatte sich vor dem Zweiten Weltkrieg ein Ruderclub befunden – ehe dieser mit samt des Ortes sowie vieler Teile des Landes in den Abgrund gerissen wurden. Buchstäblich war in Elbing kein Stein mehr auf dem anderen geblieben.
Zahlreiche Rüstungsbetriebe hatten die Stadt im Nordosten Polens ins Visier alliierter Kräfte gerückt. Beim Rundgang in Begleitung eines örtlichen Stadthistorikers wurde die bedrückende Vergangenheit versöhnlich in den Blick genommen. Getreidespeicher unten am Wasser, ganze Straßenzüge und Plätze waren nach historischem Grundriss wieder in Szene gesetzt worden. Darunter das Hotel Pod Lwem – Unter dem Löwen, das in einem imposanten Eckhaus nach Lübecker Bautradition errichtet worden war und nun Herberge für eine Nacht.

Durch ein Rosenbett auf den Oberländischen Kanal

Die Blätter verfingen sich beim Durchzug im puren Grün. Blendend strahlte die Sonne und das Wasser glitzerte verstohlen zwischen üppig blühenden Seerosen. Die Boote schoben sich durch einen „grünen Teppich“, die auf rund neun Kilometern zugewachsene Oberfläche des Drausensees. Ein Naturschutzgebiet der Woiwodschaft Ermland am Übergang nach Masuren gelegen. Stampfend näherte sich ein weißer Ausflugsdampfer, die Gewässer waren fortan wieder voll schiffbar und wurden auch emsig als weithin beliebtes touristisches Ziel angesteuert. Noch auf dem See konnte man sich mühelos die zauberhafte Passage teilen.
Doch schon bald führte die Tour in den schmalen Elbląg-Kanal, der ab 1844 in einem wahren Kraftakt vom preußischen Baurat Georg Steenke konzipiert und errichtet worden war. Verteilt auf fünf Stufen wurden 99 Höhenmeter überwunden und in einer raffinierten Konstruktion der baltische Ostseeraum mit dem masurischen Oberland verbunden. Geldgeber und Bauherrn hatten damit das Ziel verfolgt, einen Handelsweg für Holz und Getreide zu schaffen. Doch als 1860 endlich alles fertiggestellt war, hatte die Eisenbahn bereits längst überholt und für eine belastbare Verbindung gesorgt. Der ungewöhnliche Bau des insgesamt 130 Kilometer langen Kanalsystems wurde dennoch zu einem Erfolg: Seit seiner Eröffnung waren hier immer schon Reisegruppen unterwegs.


Auf den Rollbergen sind Geduld und Geschick gefragt

Gewaltige eiserne Schlitten hoben derweil auf Rollen die Boote mit samt ihrer Passagiere an Bord aus dem Wasser des Kanals, über die sogenannte „schiefe Ebene“ hinauf und dadurch Stück für Stück in Richtung Masuren. Eine Art Perpetuum Mobile, bei dem einzig vom abfließenden Wasser angetrieben gewaltige Förderräder die massiven Schlitten inklusive der Weißen Flotte von Elbing hinauf ins Oberland und wieder zurück bugsierten. Die Befahrung erforderte allerdings volle Konzentration, auch und gerade in den Ruderbooten, die wie Nussschalen den in Abflüsse gelenkten Kräften ausgeliefert waren. Bald drücke aus dem Überlauf strömendes Kanalwasser die Boote auf Poller, bald verfingen sich ihre Ausleger in den massigen Stahlkonstruktionen der engen Schlitten, die sie bergan hinauf zur nächsten Stufe beförderten. So waren komplette Bootsmannschaften damit beschäftigt, mit den entnommenen Skulls die Boote auf Spur bzw. mittig zu halten. Höher, immer höher stiegen die rostigen Gerüste auf ihren gewaltigen Rädern aus dem Wasser den Hügel hinauf.


Mit dem fünften Rollberg ist das Oberland erreicht

Die ungewöhnliche Fahrt dauerte jeweils nur wenige Minuten – und fast hätte man dabei noch die Schönheit der umliegenden Natur übersehen. Ein- und Ausstieg erforderten zudem artistisches Geschick, denn weder waren überall Leitern vorhanden, noch trieben die Boote auf Augenhöhe im Wasser. Ein echtes Abenteuer, das mit der gut gemeisterten Überwindung der ersten Stufe einen fulminanten abendlichen Abschluss des Tages hätte abgeben können – wäre da nicht der unvermittelt aufkeimende Disput mit einer örtlichen Schifffahrtsgesellschaft ins Spiel gekommen.
Die sechs Ruderboote lagen bereits fast alle für die Nacht im Schilf vertäut, als ein Duo aus der weiß-grün lackierten Flotte bedrohlich dicht auf die wertvolle Ausrüstung zusteuerte. Von der Landseite im Firmenwagen herbei gebrausten Wagen hatte ein autoritär auftretender Herr mit weißer Kapitänsmütze und unangenehm scharfzüngigem deutschsprachigen Wortspiel mit wenigen aggressiven Sätzen alle gute Laune zerstreut. Und noch während der Streit um angeblich fehlerhafte Anlegemanöver und Liegeplätze für Ruderboote zwischen polnischer Fahrtenleitung und polnischer Schiffsbesatzung eskalierte, versank die Sonne im Westen.


Grüne Oasen entlang des Oberländer Kanals

Über die Rolle auf die Masurischen Seen

Auf dem Oberland wurde die Landschaft wieder flach und ausgedehnte Waldgebiete säumten die Ufer von verschlungen daliegenden Seen. Auf dem Ruda-Woda-, Bartężek-, Ilińsk- und Dauby-See blieb man meistens unter sich. Genau das machte Masuren und seine Topografie aus: Von vielen bekannten Teilen Europas bot sie die schönsten Ecke in einer raffinierten Kombination.
Erst bei der letzten Etappe kehrte die sogenannte Zivilisation auf die Bühne zurück. Je näher die letzte Station der Fahrt Iława rückte, desto maßloser wurden die Villen der Superreichen. Ihre Häuser umfassten streckenweise viele Hundert Meter große Grundstücke. Einige Herrschaften ließen sich auch in diesem Teil Polens mit dem privaten Hubschrauber einfliegen. Damit schloss sich der Kreis zur ehemaligen Elite und Aristokratie in Warschau, die es sich vor Jahrhunderten ebenfalls nicht hatte nehmen lassen, in größter Opulenz dem Hedonismus zu frönen.


Pause an den Masurischen Seen

Der Wind hatte derweil über dem Jeziorak-See auf Südwest gedreht und warf den Mannschaften Schaumkronen vor den Bug. Die finale Passage der Wanderfahrt hatte für einige schon infrage gestanden. Irgendwann flaute der Wind jedoch ab und für Wellengang sorgten lediglich noch die kreuzenden Motorboote der Neureichen. Auch die schnittigen Doppel-Rennboote der polnischen Rudernationalmannschaft zogen vorüber. Auf den Rollsitzen echte Hünen, die sich beim morgendlichen Frühstücksbuffet im Kurhotel schon mal acht Spiegeleier pro Nase auffüllten. Doch noch war es nicht so weit.
Als draußen alle sechs Wanderfahrtboote wohlbehalten wieder auf dem Anhänger verstaut lagen, dinierten drinnen die weit gereisten Rudergäste bei Kerzenschein fürstlich. Zum Abschied flammte für sie etwas vom feinen Geist dieser Gesellschaft auf.