Die Schweiz-Fahrt

12.09.2018 | Kategorien: ,

Ruderwanderfahrt des ARV Hanseat zum Ruderclub Flüelen vom 26. Mai bis 1. Juni 2018

Helle Freuden in Helvetien
Flüelen, 26. Mai 2018

Die kleine Tafel zerging augenblicklich im Munde. Eine raffinierte Erfahrung – wie das Panorama draußen vor den Fenstern. Die Passagiere der Schweizer Fluglinie SWISS erhielten die in rotes Papier gewickelten Schokoladen beim Aussteigen am Flughafen Zürich. Noch bevor alle Süßigkeiten verschlungen werden konnten, rollte von Kloten aus auch schon der Schnellzug weiter gen Süden – immer am Wasser entlang, die Alpen im Hintergrund als beständiger ferner Gruß in Sicht.
Ausgehungert nach geografischer Höhe und emotionalen Höhen schien diese gut gestimmte Gruppe aus acht Reisenden zu sein. Gierig orientierten sich alle Blicke an den Panoramaaussichten auf beiden Seiten der lautlos dahingleitenden Personenzuggarnitur. Fotoapparate wurde gezückt und fortan kaum mehr weggesteckt. Ein Segelboot auf dem Zürichsee – klick. Drei Holzhäuser mit Blumenrabatten am Zugersee – klick. Scheinbar hochherrschaftliche Hotelbauten, die für Bruchteile von Sekunden am Bahndamm bei Brunnen auftauchten – klick. Arme Irre und vergebene Liebesmühe. Denn das Schönste kam bekanntlich doch erst zum Schluss.
Mit der Präzision des sprichwörtlichen Schweizer Uhrwerks war komfortabel das Ziel erreicht: Die Gemeinde Flüelen am Urnersee, dem südlichsten Zipfel des Vierwaldstättersees. Nur noch wenige Kilometer vom legendären Gotthard-Tunnel entfernt wirkte die Szenerie hier auf 443 Metern Höhe geradezu ergreifend.
Schneebedeckte Gipfel rund um den markanten 3.072 Meter hohen Bristen, den 2.505 Meter messenden Jakobiger, den 2.395 Meter aufragenden Hoch Geissberg. Ein Panorama so schön und einnehmend, dass man bald schon meinte, ununterbrochen einer Fototapete gegenüber zu stehen. Eine fast surreal zauberhafte Welt, in der das beruhigende Läuten solider Glocken von den auf saftig grünen Wiesen grasenden brauen Kühen bis weit hinunter ins Tal drang, romantische Holzhütten umgeben von dunkelgrünen Tannenwäldern auf Wandersleute warteten und mitten drin das smaragdgrüne Wasser des Vierwaldstättersees, auf dem rund 100 Jahre alte Dampfschiffe mit einer Leichtigkeit fuhren, als wären sie eben erst vom Stapel gelaufen. Es war fantastisch – wie auch die Gastfreundschaft der Schweizer Freunde. Bei einer Grill- und Gartenparty im schmucken Bootshaus am Seeufer lernte man sich näher kennen, den großzügigen Imbiss sowie vor allem die Aussicht auf die baldige Ausfahrt schätzen. Eine Nacht noch, einmal noch wach werden, dann kam es, das große Ruderabendteuer.

Auf den Spuren der Ur-Schweiz
Rotschuo, 27. Mai 2018

Der nächste Tag begann wie der vorherige aufgehört hatte: Mit einem liebevoll angerichteten Buffet voller lokaler Köstlichkeiten, serviert im Bootshaus des Flüelener Ruderclubs von 1967. Der sonnige Morgen war klar und frisch. Schaumkronen zeigten sich auf der mächtigen Oberfläche des Hausgewässers, ein eher für sonnige Nachmittage bekanntes Wetterphänomen. Nun kamen die lokalen Ruderchampions nicht umhin, von den Tücken und Herausforderungen einer Partie auf ihrem See, dem Vierwaldstättersee zu berichten.
Schwerwinde mit Orkanböen beutelten regelmäßig manch romantisch wirkenden Felsvorsprung entlang seiner weitläufigen Ufer. Was für Surfer paradiesische Verhältnisse schuf und den neckischen Raddampfern nicht das Mindeste ausmachte, konnte für die offenen Ruderboote schnell zur nassen Falle werden. Vorsicht war also geboten, als es – so weit wie möglich – im Windschatten der riesenhaften, fast senkrecht im Lot stehenden Felswand des Axen Richtung Norden ging. Ein märchenhaft schöner Anblick, der zum Träumen einlud – bis wieder die nächste Welle eiskalten Seewassers über Deck und auf die Beine klatschte. Sofort waren alle Sinne hellwach und wieder fokussiert auf die Kulisse, die hier Zug um Zug rudernd passiert wurde … samt einer Verkettung sagenumwobener Schauplätze. Denn hinter einer weiteren dramatisch von Wellen umspülten Felskante wurde es historisch. Die mit Fresken geschmückte Tellskapelle – romantisch zwischen Tannen und dem weiter oberhalb gelegenen Bahndamm gelegen – markierte geografisch eine der epenhaften Erzählungen aus der Gründungsphase der Eidgenossenschaft. Sie stand in Verbindung mit dem Apfelschuss des Schweizer Freiheitskämpfers und Nationalhelden Wilhelm Tell. Zu dessen Lebzeiten soll der habsburgische Landvogt Gessler zu Altdorf angeblich einen Hut auf eine Stange gesteckt haben lassen. Er schikanierte sein Volk mit dem Geheiß, dass alle das Kleidungsstück wie ihn selbst zu grüßen hatten. Der Armbrustschütze Tell verweigert sich jedoch und der Vogt befahl ihm daraufhin, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes Walter zu schießen. Tell tat widerstrebend wie ihm geheißen und – traf das Obststück problemlos. Doch weil der kühne Schütze einen zweiten Pfeil für den verhassten Vogt dabei hatte, ließ dieser den Helden festnehmen. Unterwegs zum habsburgischen Kerker in der Burg von Küssnacht kam das Boot auf dem Vierwaldstättersee der Mythologie nach in einen Sturm. Tell wurde seiner Fesseln entledigt, steuerte das Boot gegen das Ufer vor die Steilwand des Axen und sprang auf eine hervorstehende Felsplatte – eben jene Tellsplatte, die nun vom bedenklich schwankenden Ruderboot aus gut sichtbar vorüberglitt.
Noch in Gedanken gebannt von der bewegenden Geschichte des Helden und seines rettenden Landgangs rückte schräg versetzt am gegenüberliegenden Ufer bereits der nächste kulturhistorisch Fixpunkt der Region ins Blickfeld: Das Rütli unterhalb der Urner Gemeinde Seelisberg. Auf dieser malerisch gelegenen Bergwiese soll der Legende nach das Bündnis der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden geschlossen worden sein. Mit dem Eid des sogenannten Rütlischwurs fassten deren drei Vertreter einst einen Bund gegen die tyrannischen Vögte der Habsburger und trugen zur Entstehung und zum Wachstum der Alten Eidgenossenschaft bei – der Wiege der Schweiz. Die nun geläufige Jahreszahl 1291 für den Rütlischwur stand im Widerspruch mit der Tradition des Spätmittelalters und der Frühmoderne, in der jeweils andere zeitliche Szenarien für den Bündniseid vorgeschlagen worden waren. Realer als der Zweifel an der korrekten Datierung war da der Formationsflug einer Schweizerischen Fliegerstaffel. Ihre rot lackierten Jets ritten auf weißen Kondensstreifen über die Berge hinweg und formten dabei ein Schweizer Kreuz im strahlend blauen Himmel. Die Maschinen tauchten wie der Blitz genau in dem Moment über dem See auf, als das Duett aus zwei schmucken Ruderbooten hinüber ans westliche Ufer und in Richtung des markanten Schillersteins wechselte.
Bei so viel sagenumwobener Legendenbildung hatten sich die Literaten, die sich der leibhaftigen Thriller mitten im Hochgebirge annehmen konnten, nicht lange bitten lassen. Friedrich Schiller verarbeitete all den legendären Stoff in seinem Werk, wurde sozusagen zum Chronisten der Ereignisse – und prompt mit dem nach ihm benannten gezackten Solitär am Ufer des geschichtsträchtigen Gewässers geehrt. Hatte man die Biegung hinter dem 20 Meter messenden Schillerstein geschafft, setzten die harschen Winde aus. Ruhig glitten die Boot weiter bis zu einem alten Wirtshaus in Treib. Der Ort bestand im Grunde aus nicht viel mehr als einer Handvoll Holz- und Fachwerkhäusern. Ringsum die bewaldeten Hänge und auf den Almen in luftiger Höhe schallte wiederum das ferne Läuten der Glocken an den Hälsen genügsamer Kühe. Selbst hier in der scheinbaren Einöde war alles minutiös organisiert. Alle nur denkbaren Verkehrsmittel ließen sich mühelos miteinander kombinieren. Da lag das Kursschiff MS Uri unter Dampf stehend an der Anlegestelle von Treib vertäut. Während einige Gäste von Bord und quasi direkt in die keine Talstation der Bergbahn gegenüber gingen, setzte der Dampfer seine Tour fort. Im Hintergrund rollte da schon nach Fahrplan eine wie ein Kinderspielzeug ausschauende, rot lackierte Zahnradbahn hinauf zum Seelisberg. Wo auch immer man an diesem 114 Quadratkilometer großen See Halt machte, war entweder ein Sessellift, eine Seil- oder Zahnradbahn, ein Postauto – wie der Postbus in der Schweiz hieß – oder gar die Staatsbahn greifbar.
Von einem köstlichen Appenzeller Pils, einer erfrischenden Rivella – dem perlenden limonadenartigen Trank, der sich mit stärkender Molke versetzt als Schweizer Sportgetränk anbot – oder einer Schale – der eidgenössischen Variante des Milchkaffees – mit wieder geweckten Lebensgeistern ging die Partie munter weiter. Die weit verzweigten Arme des Vierwaldstättersees boten unter dem Dach eines veritablen Frühsommertages immer wieder neue, atemberaubende Einsichten und Ausblicke. Seine Wasser durchpflügten in zügigem Takt die gelb lackierten Blätter der Skuls, auf denen das Uristier – das stilisierte Haupt eines Auerochsen – als Symbol für den Kanton Uri stand, aus denen die geliehenen Boote stammten. Ringsum das klare, immer grünlich schimmernde Gewässer, das in puncto frühsommerliches Rudervergnügen noch die bescheidensten Erwartungen überflügelte. Man möge das beschwingende Wetter, die inzwischen perfekten Bedingungen im Revier oder die Szenerien des schieren Wohlstands, die unter Land zur ständigen Begleiterin geworden waren, durchsetzt von prächtigen Villen, opulenten Yachten und gehegten Gärten, bitte nicht als universell gesetzt und stellvertretend für die gesamte Schweiz ansehen, versuchten die gastgebenden Freunde die Erlebnisse zu relativieren. Vergebens – es war einfach zu perfekt. Und das es so war, daran hatten die Schweizer Gastgebenden schließlich selbst einen riesigen Anteil. Während man selbst Helvetica vom Wasser aus auf angenehm schweißtreibende Art erkunden durfte, brachten fleißige Geister im Hintergrund bereits das Gepäck aller Reisenden im Privatwagen zur nächsten Unterkunft an Land. Wurde gerastet, stand bereits ein schmackhafter Imbiss bereit. Kaum zogen die Ruderleute die Boote über knirschenden Kiesel etwa beim Ort Beckenried ans Ufer, wurden dort auch schon mit Bergsalami belegte Semmeln, kalorienstiftende Müsliriegel, frisch aufgeschnittene Obststücke, Gebäckmischungen und Drinks auf behaglichen Picknickdecken gereicht.
Weitere zehn Ruderkilometer im gleißenden Licht einer golden schimmernden Nachmittagssonne und einem kneippartigen Bad im eiskalten See weiter setzte das Sechs-Bett-Zimmer in der Jugendherberge von Rotschuo dem Ganzen die Krone auf. Erwachsene Abenteurerinnen und Abenteurer vereint unter einem Dach. Wie damals, auf Klassenreise im Kindesalter.
Im eigenartigen Kontrast zu den beengten Verhältnissen standen eigentlich nur die beispiellos wirkenden Preislisten in der Eidgenossenschaft. Vier Franken für ein kleines Eis vom Migros-Supermarkt, acht Franken für eine Schale, 32 für eine Pizza-Funghi oder gar 100 für einen Kasten Bier. Man wurde gewahr, dass sich bald schon Tränen der Rührung bei einem bundesdeutschen Einkauf einstellen würden.

Tellsches Schifferglück
Rotschuo, 28. Mai 2018

Aus all den süßen Träumen voller gütlicher Kost in fabelhaftem Terrain riss der darauffolgende Nachmittag gänzlich unerwartet. Der mit Aussichtspunkt besetzte Bürgenstock zur einen Seite, der per Zahnrad- oder Seilbahn erreichbare Rigi zur anderen ging es eben auf die letzte Etappe des Tages und zurück Richtung herrlich mit eigener Badebucht versehener Bleibe in Rotschuo. In sengender Hitze waren der Chrüztrichter und der Alpnachtersee – Teile des mächtig-magischen Vierwaldstättersees – erkundet. Das 1.898 Meter hohe Stanserhorn und der 2.119 Meter hohe Pilatus hatte erhaben von weitem gegrüßt. Propellerbetriebene Jagdflugzeuge der Schweizer Armee, die den Namen jenes Gipfels trugen und an seinem Fuße produziert vom Band liefen, summten wie ein Schwarm wild gewordener Bienen den ganzen Tag lag durch die Luft. Nun kräuselte sich von einem auf den anderen Augenblick unten die spiegelglatte Oberfläche des Sees.
Die kurzweilige zugige Abkühlung wuchs sich binnen Minuten zu einem kräftigen Wind aus. Kniehohe Wellen schlugen plötzlich weiße Schaumkronen und just in dem Moment stand noch die Passage durch die ohnehin als riskant geltende Seeenge zwischen Vitznau und Unter Nas aus. Alle griffen nach den Schwimmwesten, Wasser schwappte bereits um die Knöchel, die zwar dringend benötigte Abkühlung bekamen, aber an ein Kentern mahnten. Brotbüchsen und Getränkeflasche schwappten im Boot bedenklich umher.
Auf den Spuren Wilhelm Tells dramatischer Sturmfahrt drehten die Ruderboote jetzt im stärker werdenden Föhn bei und begaben sich im wohl letzten Moment am geschützten Strand eines Luxushotels in Sicherheit. Die Ausrüstung war eben erst vertäut, da holte die Natur mit ganzer Kraft Luft und schleuderte den Vierwaldstättersee in hohen Wogen durcheinander. Anscheinend war es dies, was die begleitenden Schweizer Freunde mit einem „nicht immer perfekten“ Ruderterrain meinten.

Entlang der Hohlen Gasse bis Luzern
Luzern, 30. Mai 2018

Der Sage nach war es im Sturm, dass Wilhelm Tell seiner Verbannung durch den habsburgischen Landvogt Gessler entging, das hatte man am ersten Tag auf dem See gelernt. Am Axen an Land gesprungen, schritt Tell zu Fuß bis zur Burg in Küssnacht weiter, um den längst schon für den Vogt vorbestimmten zweiten Pfeil endlich abzufeuern. Der Armbrustschütze wollte sich die Besonderheit der Hohlen Gasse zunutze machen, einem künstlich gebauten Hohlweg zwischen Küssnacht und Immensee, über den der im Fadenkreuz stehende Tyrann in seine Festung reisen musste. Friedrich Schiller schrieb dazu im gleichnamigen Drama: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht.“
Bei einem Glas gekühlter Rivella und einem mit gutem Schweizer Rindfleisch angerichteten Hamburger konnte man nun im Strandbad von Küssnacht versuchen, dem Mythos dieser Stadt nachzuspüren. Das Wetter hatte sich vollständig entspannt und die Boote dümpelten vertäut im ruhigen Seewasser gleich nebenan. Ringsum verhießen an Schlösser erinnernde Privathäuser, dass all dies ganz gewiss kein preiswertes Bauland war. Man erfuhr im Vorüberrudern von gestaffelten Steuersätzen, die je nach Kanton verschieden hoch ausfielen. Mitunter lohnte es sich also, einige Kilometer weit vom Kultur-, Banken- und Universitätszentrum Luzern entfernt sein Quartier aufzuschlagen. Gerade recht hinter der nächsten Steuerbarriere – ein Schelm, der einen Sparfuchs dahinter witterte.
Die Hauptstadt des gleichnamigen Kantons Luzern überwältigte mit ihrer gut erhaltenen Altstadt samt Befestigungsanlagen aus dem 14. Jahrhundert. Überall erhabene Bürgerhäuser, überlebensgroß bemalt mit bunten Motiven aus der Schweizer Kulturgeschichte und geschmückt mit Blumen. Schmiedeeiserne Applikationen säumten unten die mit Kopfsteinpflaster beschlagenen Gassen und unter der rekonstruierten Kapellbrücke lief rauschend der Vierwaldstättersee über den Fluss Reuss ab. Hatte man erst das Löwendenkmal und den Gletschergarten bestaunt, war die Zeit für eine zünftige Apéro gekommen – eine Pause. Am besten gleich mit einem belebend mit Champagner angereicherten Aperol-Spitz im hohen Weinglas serviert. Gut geschenkt war halb getrunken, Wohlsein. Das alles fanden nicht nur acht aus Hamburg angereiste Ruderleute toll. Hunderte, ja Tausende Gäste aus aller Welt zog es täglich nach Luzern und an den zentralen Schwanenplatz. Neben den schneeweiß-leuchtenden gefiederten Lieblingen im Wasser erwarteten oben an Land auch noch die Ladenzeilen weltweit gerühmter Schmuckgeschäfte all die Touristen. Chinesen, Japaner, Inder, Franzosen, Amerikaner – alle stürmten den Parlours von Bucherer an der stets belebten Grendelstraße. Dort wurden Perlenketten quasi als Meterware eingepackt und Rolex-Uhren – wohl gemerkt die echten – im Dutzend eingekauft. Gegenüber beim Confiseur Bachmann fanden sich erlesene Tafel, denen der am Beginn der Reise gratis vergebene süße Gruß der SWISS kaum nachstand. Im Fondue Haus nebenan qualmten derweil rund um die Uhr die opulent gefüllten Töpfe. Und wem beim City-Hopping mit Luxus-Shopping das Taschengeld ausging, konnte gleich an Ort und Stelle bei Credit Suisse oder der UBS nachlegen.
Dem betörenden Trubel aus fremden Sprachen, Kulturen und dicht gedrängten Wegen entkam man eigentlich nur mit einer S-Bahn-Fahrt. Raus, fort- und per Zug vorbei am Alpnachersee bis in den Ort Sarnen gefahren, bekam man großzügig Zutritt zum Schweizerischen Olympiastützpunkt des Rudersports. Ein wenig ehrfürchtig stand man da vor der exquisiten Ruderausrüstung, die alle Gäste nur ins Staunen versetzte. Und einfach so vertraute man da den Zugereisten all diese Werte an und überließ sie ihnen für eine Ausfahrt auf dem Sarnersee gleich vor den Hallentoren. Staunen durfte man dort wirklich, denn das Gewässer lag umgeben von grün bewachsenen Bergen, hölzernen Fischerhütten und vielerlei Villen wie ein unberührter Edelstein im Vormittagslicht voraus. Nichts trübte hier die Aussicht, deren Horizont nach Süden unter einem tiefblauen Himmel das Berner Oberland mit den Gipfeln von Jungfrau, Joch und Eiger markierte. Spätestens jetzt erfüllte sich auf das Vortrefflichste der universelle Run auf geografische Höhe und emotionale Höhen.

Zu Wasser und zu Lande
Flüelen, 1. Juni 2018

Die Freude war groß, die Erleichterung auch. Auf den finalen Kilometern zurück zum heimatlichen Ruderclub in Flüelen hatte die Natur zu guter Letzt mit garstigen Winden noch einmal nachgelegt. Schaukelnd und schwankend erreichten die beiden Doppelvierer unbeschadet ihren heimatlichen Steg, Wellen schlugen über dem Anleger zusammen. Es war geschafft. 148 Ruderkilometer und eine Wanderfahrt, der es ganz und gar an nichts gefehlt hatte. Die lieben Schweizer Freunde, sie waren mit Sekt und Saft, Bier und Wein zur Stelle. Bei einem Imbiss schien die Sonne in lauter zufriedene Gesichter von Menschen, die sich das Glas hebend strahlend beglückwünschten. Doch wer dachte, dass sich der Tatendrang der zähen Gastgeber nur auf das Wasser beschränkte, hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Schon am nächsten Tag startete der Aufstieg in die pittoreske Waldumgebung. Am Ortsausgang von Flüelen führte der Pfad nach oben, höher und höher. Unten leuchtete der smaragdgrüne Vierwaldstättersee mit der Rütli-Wiese im idyllischen Sonnenschein, dahinter das makellose Alpenpanorama. Das Dampfschiff MS Uri wirkte von hier oben wie ein Spielzeug in einer Badewanne. Den warmblütigen Kühen mit ihrem herrlichen braunen Fell kam man hier zwischen Almhütten näher, auch ihre kürbisgroßen Glocken an breiten Lederriemen wurden greifbar. Die Rinder waren der Landbevölkerung seit jeher teuer, und um die Tiere alle auch einen ganzen Winter lang versorgen zu können, hatten sich die Bauersleute waghalsige Mittel einfallen lassen. Hoch oben am Berg, auf den unberührten Almen in klarer Luft, gediehen saftige Gräser. Sie verrotteten ungenutzt mit den Jahreszeiten – bis einer darauf kam, auch dort das Gras zu schneiden und so ausreichend Heu zu hamstern. Mit Steigeisen und alpiner Ausrüstung erkämpften sich die Farmer diese Regionen und mähten noch an den unzugänglichsten Stellen und unter Lebensgefahr im Gebirge. Wildheuen nannte sich dieser Prozess. Doch unten, viel weiter unten am Berg kam man auch schon ohne Sensen auf schmalem Pfad im Unterholz gehörig ins Schwitzen. Aus dem Augenwinkel musterte man verstört, wie mühelos und dabei noch laut schwatzend die Schweizer vom Rollsitz eines Ruderbootes auf eine Bergpartie am Steilhang umsteigen konnten. Beschämt über das eigene banausenhafte Dasein war nach kaum zwei Stunden die Berghütte auf dem Oberaxen in 990 Metern Höhe erreicht. Unter einem Sonnendach wurde da fürstlich aufgetragen. Jeder, der wollte, bekam einen „Hauch“ Nudeln serviert. Eine Kumme gefüllt mit gefühlt je 500 Gramm Makkaroni, gegart in einer Sauce aus Schlagsahne, überbacken mit einem ordentlichen Stück Schweizer Bergkäse und Röstzwiebeln als Garnierung. Ein fürstlicher Schmaus also. Zu diesem Leben in Saus und Braus reichten die Köche Apfelmus. Älpler Makronen nannte sich diese Nationalspeise, die nach den kräftezehrenden Anstrengungen der letzten Tage wohl verdient war – beruhigte man das eigene Gewissen. Dazu eine Stange, ein gut gezapftes Pils im Tulpenglas, oder wahlweise eine Rivella, einen Eiskaffee, einen Pflaumenschnaps, eine Schale, noch eine Stange oder einen Limoncello, einen vollmundigen Limetten-Schnaps – die Zeit verrann in bester Gesellschaft mit den leckersten Zutaten und wie im Fluge. Die Krönung der schönsten Stunden in luftiger Höhe.

Marc Tornow

Fotos: Carola Markus mit freundlicher Genehmigung

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