Rudern im Fahrwasser der Eliten
Die Themse-Tour vom 3. bis 11. September 2022
Fahrtenleitung: Ralf Lange · Text: Marc Tornow · Fotos: Carola Marcus, Astrid Helzel, Jochen Graessner, Ralf Lange, Birte Surborg
Ein einsam gelegenes Herrenhaus mit Kaminschloten auf Spitzdach, eine von Weiden und wildem Gestrüpp versperrte Böschung sowie die alle paar Minuten ratternden Züge auf einem geklinkerten Eisenbahnviadukt – die ganze Szenerie ließ an den Krimiklassiker „16 Uhr 50 ab Paddington“ erinnern, bei dem Margaret Rutherford die Rolle der schrulligen Amateurdetektivin Miss Marple mimte. Doch hier in der ländlichen Idylle von South Oxfordshire trat heute weder eine tantenhafte, untersetzte Dame in Erscheinung, noch gab es ein Verbrechen aufzuklären. Am Anleger des Goring Gap Boat Clubs galt es vielmehr, zwei Gig-Vierer klarzumachen und in die gemächlich dahinfließenden Gewässer der Themse zu entlassen.
Doch bis der wohl prominenteste Fluss, den das Vereinigte Königreich zu bieten hat, zu Wasser erkundet werden konnte, war gefühlt eine halbe Ewigkeit vergangen. Die bereits vor drei Jahren bis ins Detail geplante Tour war der 2020 grassierenden Corona-Pandemie krachend zum Opfer gefallen. Lockdowns, Ausgangssperren – so war kein Start zu machen.
2021 sah es auch nicht besser aus: Das Virus war in unbekannte Varianten zerfallen und alle Englandreisenden wurden mit mehrtägiger Quarantäne belegt, sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg.
2022 der dritte Versuch: Das vorbestellte Hotel hatte wie durch ein Wunder den pandemiebedingten Gästeschwund, den Brexit sowie eine sich seitdem einschleichende Wirtschaftskrise überlebt. Die vor rund zwei Jahren geleistete Anzahlung auf fünf Doppelzimmer war nicht verloren und auch sonst hatte das politische London inzwischen alle Weichen für weit geöffnete Türen und einen Neustart des Tourismus gestellt: Warmly welcome.
Weniger herzlich willkommen mussten sich Reisende dieser Tage indes an den britischen Außengrenzen fühlen. Der Praktikabilität halber – und, um einem unkontrollierten Zuzug allzu vieler auswärtiger Leute zuvorzukommen – waren deren Kontrollposten von der Insel hinüber auf den Kontinent verlegt worden. Im Hafen des französischen Calais hatten die Beamten in ihren schnittigen, dunkelblauen Uniformen Posten bezogen. Die von grellem Neonlicht beschienene Schalterhalle, auf der die Uhren im Vorgriff auf das nahe Reiseziel schon die UK-Time abbildeten, bot kaum genügend Platz für die Hundertschaften von Buspassagieren, die hier durchgeschleust werden mussten.
Zwar genossen britische Gäste und solche aus den befreundeten Commonwealth-Staaten wie Kanada, Australien, Singapur oder Neuseeland eine bevorzugte Priority Lane. Doch das Chaos blieb auch für diese Klientel herausfordernd. „It’s a complete disgrace – Es ist eine einzige Schande“, fluchte eine Britin, der es offenkundig nicht besser ergangen war als den acht Ruderleuten, die per gemietetem Minibus aus Hamburg unterwegs waren. Für alle Beteiligten erwies sich der Kontrollpunkt als lästiges Hindernis, das dem steten Strom der Reisenden sowie dem Post-Brexit-Grenzprotokoll kaum gerecht wurde.
Im Übrigen bedurfte die Einreise nunmehr eines Reisepasses, persönliche Daten mussten vorab bei der Reederei angegeben werden. Der Güter- und Warenverkehr unterlag jetzt einer separaten Zollabfertigung, so dass nach mehreren bürokratischen Hürden, die die Franzosen ihrerseits aufgestellt hatten, auch noch die Prüfung durch den Customs Service im Dienste Ihrer Majestät erfolgte. Viermal musste der Reisepass gezückt werden. Die auf mehreren Kilometern in Dutzenden Reihen gestauten Fahrzeuge wälzten sich Stoßstange an Stoßstange durch ein Labyrinth aus Gitterzäunen, Stacheldraht und Überführungen.
Und als viereinhalb Stunden bürokratischer Monstrosität später die schon sicher gewähnte Fähre längst hinter dem Horizont verschwunden war, erschien das nächste Fragezeichen: Wohin sich jetzt wenden? Die in orangefarbene Westen gehüllten Hafenarbeiter von Calais dachten gar nicht daran, irgendwem auch nur irgendetwas zu verraten. Stattdessen blieben Fährpassagiere bei dem Versuch, zwischen den Ordnungsnummern 100-999 sowie 1.000-1.999 die Ziffer 8 ausfindig zu machen, sich selbst überlassen. Irgendwann hatte jemand Erbarmen und wies in eine Richtung des Hafens.
Eine minutenlange Autofahrt führte bis ans andere Ende der weitläufigen Anlage, wo endlich der rettende Anker in Form eines freundlichen Herren der Reederei P&O erschien. Er wies an, dass sein Transporter ein sogenanntes „Pianocar“ sei, dem es nun zu folgen galt.
Quasi als Lumpensammler folgten dem vorausfahrenden Wagen all jene armen Tröpfe, die ihre Schiffe zuvor verpasst hatten und nun für die nächstmögliche Passage zusammengefegt wurden. Die Follow-Me-Tour endete etwa drei Kilometer später wieder zurück an jenem Punkt, bei dem der scheinbar freundliche Hafenarbeiter in die entgegengesetzte Richtung gezeigt hatte.
Wohl feil, wer die Strecke Hamburg-London nicht mit einem Minibus samt Fährpassage binnen 18 Stunden, sondern per Flugzeug in 80 Minuten hinter sich gebracht hatte.
Dafür gab es aber vom Oberdeck einen unvergesslichen, versöhnlichen Ausblick auf den Hafen von Calais. Die Anspannung wich, als die Fähre endlich sanft in den Wellen schaukelnd auslief. Eine milde Brise lag über dem Ärmelkanal, im goldenen Abendlicht die spektakuläre Küste. Unten fläzte sich eine Seehundfamilie zum Abschied aus der EU auf einem schmalen Stück Strand, das ihr zwischen Spundwänden und Wellenbrechern geblieben war. Über die Flure der in die Jahre gekommenen „Pride of Canterbury“ wandelten derweil die Passagiere auf der Jagd nach vermeintlichen Shopping-Schnäppchen sowie lovely Fish&Chips aus dem Selbstbedienungsrestaurant samt Flaschenbier zu 8 Euro.
Der letzte Bissen war kaum verschlungen, da tauchten 27 Kilometer und 90 Minuten später die malerischen Kreidefelsen an Englands Südküste auf – gekrönt vom Dover Castle, einer mächtigen Burg, die seit dem 12. Jahrhundert erhaben über dem Eingang zum Ärmelkanal thronte.
Mittlerweile war es dunkel geworden und die Orientierung fiel zwischen einer Serie von Kreisverkehren sowie verdrehter Fahrbahnrichtung schwer. Irgendwann aber erfassten die übermüdeten Augen wie im Tunnelblick ein bezauberndes Arrangement von gedrungenen Häusern aus Felssteinen, den festungsartigen Turmstumpf der St. Nicholas Church – und das warm beleuchtete Warren Lodge Hotel am Church Square von Shepperton, vor den westlichen Toren Londons gelegen.
Im beengten Festsaal des Hotels tappte ein Brautpaar mit seinem Aufgebot zwischen Diskofox und Bitterale, Yorkshire-Pudding und Gurken-Sandwiches umher. Auch wenn sich das bezogene Zimmer mit seinen einfach verglasten Fenstern direkt über dieser Gesellschaft befand – der druckvolle Bass von unten verschwamm augenblicklich in der überwältigenden Müdigkeit.
Adel verpflichtet
Der nächste Tag und damit das Themse-Ruderabenteuer begann mit Morgentau. Der Himmel war bedeckt und feine Tropfen perlten über üppig grüne Blätter – auch an den Weiden und dem wilden Gestrüpp entlang der Uferböschung von Goring. Endlich schwammen dort die Boote am Anleger, oben rumpelte da schon der nächste Zug über den Bahndamm.
Zwei nicht mehr ganz frische C-Gig-Vierer sollten über die kommenden sieben Tage unsere beiden „Agenten“ sein. Anstatt eingängiger Namen hatte der hilfreich als Leihgeber zur Seite stehende Weyfarer Rowing Club sie auf 003 und 004 getauft. Die beiden Doppel-Null-Doppelvierer gingen der inzwischen komplett zusammengetroffenen Mannschaft mühelos durch die Hände.
Nach all den strapaziösen Stunden auf europäischen Autobahnen begann endlich die lang ersehnte Tour auf dem südenglischen Hausgewässer. Es lag ruhig und fast spiegelglatt vor den Mannschaften. Hier draußen in der geradezu ländlichen Idylle, die die Region zwischen Oxford und London bot, ging es gediegen bis luxuriös zu: Elegante Villen im Tudor-Stil, der an eine Art abgewandeltes Fachwerk erinnern ließ, wechselten ab mit romantisch geschwungenen Fußgängerbrücken; schmiedeeiserne Gitter schirmten riesige private Anwesen ab, die hinter Jahrhunderte altem Baumbestand verborgen lagen. Dann wiederum tauchten scheinbar im Nirgendwo die imposanten Mauern von nach Geschlechtern getrennten Internatsschulen auf, die über eigene Pontons mit Themse-Zugang verfügten. Anlegen (Mooring) war dort – wie an fast allen Uferabschnitten entlang des Flusses – verboten.
Der Fluss mäanderte dabei durch ein hügeliges Gebiet, welches so üppig bewachsen war, dass sich da und dort der Eindruck einer Amazonas-Expedition einschlich … Ein flüchtiger Eindruck nur, denn hinter der nächsten Kurve wartete jeweils schon eine der größeren Siedlungen. Oder gleich eine Kleinstadt vom Schlage Readings, bei der zur Mittagsrast am örtlichen Ruderverein gehalten wurde.
Bei diesen Stopps blieb man auf den guten Willen der gastgebenden Clubs angewiesen. Mal eben irgendwo längsseits gehen und sich auf eine halbe Stunde die Beine vertreten? Kam nicht infrage. Das musste vorab organisiert werden, denn die meisten Mitglieder der auf ganzer Flusslänge residierenden Ruder-, Kajak- und tatsächlich Segelclubs wollten unter sich bleiben. Die Allüren einiger verschrobener Flussvagabunden, die sich auf verwunschen wirkenden, im verwilderten Grün der Ufer verschluckt gelegenen Hausboote eingenistet hatten, fielen hier nicht ins Gewicht.
Bei all dem elitären Gebaren ringsum erschien es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet einer der nobelsten Vereine weit und breit sein Einverständnis für eine nächtliche Lagerung der beiden geliehenen Doppel-Null-Boote gegeben hatte: der altehrwürdige Phyllis Court Private Club von 1906 in Henley-on-Thames. Berühmter Schauplatz der seit 1839 jeden Sommer abgehaltenen Henley Royal Regatten, bei denen jeweils Zehntausende Schaulustige zu horrenden Preisen um Tickets rangeln, um in der ersten Reihe den über 550 Yards auszutragenden Ruderwettrennen auf der Themse beizuwohnen.
Und auch auf dem parkähnlichen Anwesen von Phyllis Court selbst, auf dem Rolls Royce, Bentley und Jaguar parkten, war eigens für diese Anlässe eine doppelstöckige Tribüne im Stil eines Ausflugspavillons errichtet worden. Mehr schon eine Art Palais, auf dessen übereinander gelegenen Terrassen die honorigen Clubmitglieder Richtung Wasserseite schauen und jubeln konnten. Landseitig schlossen sich großzügige Ballsäle an, in denen Banketts für geladene Gäste abgehalten wurden.
Es seien schon spezielle Clubmitglieder bei Phyllis Court versammelt, verriet mit gesenkter Stimme einer der wachhabenden Angestellten beim eskortierten Gang über das Gelände.
Genau in dieses Refugium des Reichtums wurden die erschöpften Ruderleute geführt, um sich gleich nach dem ersten Tag auf dem Wasser in den Waschräumen zu erfrischen – bei klassischer Musik und Duftcremeseife, umrahmt von lachsfarbenem Marmor. Ringsum wirkte der feine englische Rasen so, als wäre jeder Halm mit der Nagelschere nachgearbeitet worden. Üppige Blumenrabatten mit exotischen Pflanzen aus den britischen Kolonien schmückten das Areal zwischen hoher Grundstücksmauer, einem Ententeich, dem privaten Cricket- sowie einem Tennisplatz.
Drinnen im Haupthaus, das an eine legendäre Szene aus dem 007-Blockbuster „Goldfinger“ erinnerte, bei der Sean Connery als Geheimagent James Bond auf seinen Kontrahenten Gert Fröbe alias Auric Goldfinger trifft, wandelten die Gäste ehrfürchtig über handgeknüpfte Teppiche vor Chippendale-Möbeln. An markanter Stelle vor einer breiten Freitreppe war selbstverständlich ein großformatiges Bildnis Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. positioniert. Markante Ecken zierten Kronleuchter, die für ein mildes Licht auch in der sich anschließenden Gesellschaftshalle sorgten. Dort saßen Damen in Kostümen und mit ausladenden Hüten beim High Tea zusammen. Distinguierte Eleganz und gedämpfte Stimmen, da und dort ein leises Klappern, wenn vom Ingwergebäck oder der Lemon Tart auf der Etagere aus Royal-Albert-Porzellan gekostet wurde.
Aber auch außerhalb der gut bewachten Mauern von Phyllis Court ging es nicht minder wohlhabend zu. Schon auf den letzten Rudermeilen bis zum Etappenziel waren nur die feinsten Grundstücke und Häuser aufgetaucht. Irgendwer ließ sich sogar mit einem Privathelikopter hierher einfliegen und auch entlang der schmucken Hauptstraße des mittelalterlichen Henley ging es teuer zu. Fraglos zählte dieser Teil von England zu den reichsten im Land. Es war dies der gesellschaftspolitische Speckgürtel Großbritanniens, in dem die in den kontinentaleuropäischen Medien viel beschworenen Blessuren des Brexits sich im Alltag nicht erkennen ließen. Nirgendwo schien der Pleitegeier zu kreisen, alle Ladengeschäfte waren vermietet und besetzt. Lücken in den Regalen von Supermärkten waren nicht zu finden. Von holländischen Gurken bis zu spanischen Tomaten waren die Auslagen gefüllt. Überhaupt schienen es sich die Menschen zumindest in diesem Teil des Landes gut gehen zu lassen. Die Restaurants waren bestens besucht und trotz einer Inflationsrate von 16 Prozent schien sich niemand das abendliche Pint im Lieblingspub nehmen zu lassen.
Unterwegs im Schichtstufenland
Dagegen mussten die hier gastierenden Ruderleute jeden Morgen beim Frühstück im Warren Lodge Hotel von Shepperton aufs Neue die Begegnung mit der Schichtleiterin Karen meistern. Die hagere Erscheinung mit fliehendem Kinn und der Durchschlagskraft eines Armeefeldwebels – „room number, please!“ – entschied frei weg, wer ein Besteck bekam und wer nicht, wer Platz nehmen durfte und wer zu warten hatte. Schon die Bitte, die zum Full-English-Breakfast übliche Scheibe Blutwurst wegzulassen, schien die Oberkellnerin zu überfordern. Ihre überraschende Strenge traf sowohl die Gäste als auch die beiden ängstlich vor Karen kuschenden Jünglinge, die morgens aushilfsweise mit von der Partie waren.
Doch dafür entschädigten täglich die immer neuen Aussichten auf das wunderbare Land beiderseits der Themse. Der Fluss schwillt auf 346 Kilometern Stück für Stück an, unterquert imposante Bogenbrücken, passiert pittoreske Städte mit viktorianischen und gregorianischen Bauwerken.
Unterdessen ging es auf der Themse buchstäblich bergab. Da Fließgewässer ergießt sich zwischen Henley, Marlow und Maidenhead über das sogenannte Schichtstufenland immer weiter hinab nach Osten, was an Dutzenden Schleusen erlebbar wird, mittels derer es in Fahrtrichtung London Meter um Meter stufenweise tiefer geht.
Seine heutige Gestalt als weitgehend eingehegtes Gewässer verdankt der Fluss den während Jahrhunderten immer weiter perfektionierten Uferbefestigungen. Sie machten die Auswirkungen von Überschwemmungen kontrollierbarer und aus einem ehedem plätschernden Bach eine dauerhaft schiffbare Wasserstraße. Seit der zunehmenden Industrialisierung diente die Themse allerdings mehr und mehr den Sportbooten als Revier. Jedes Vehikel, vom Flusskahn bis zum Stand-up-Paddler, musste zuvor beim Wasser- und Schifffahrtsamt registriert werden. Wie wohl doch jegliche Abwesenheit von ungelenken Wassergefährten tat, wurde hier noch einmal charmant deutlich.
Auch und gerade an den reißenden Fluten bei so manchem Wehr entlang der Strecke sowie dem sich regelmäßig anschließenden nächsten Lock (Schleuse). In der Enge der Schleusenkammern hatten die Skipper diverser privat betriebener Longboats sowie die Rudermannschaften aufmerksam zu navigieren. Sie alle wurden von den Wärtern meist auf kurios humorvolle und unterhaltsame Weise beim Manövrieren unterstützt. Mal wurde ein Lied für die Deutschen geträllert, mal eine Fanfare an Deck geblasen, dann ein grün plüschiger Spielzeug-Drachenschwanz als Albernheit ans Gesäß platziert oder vom schönen Leben bei den „Krauts“ auf dem Kontinent geschwärmt.
Eines hatten die kurzen Pausen entlang der Wasserstraße stets gemein: Alle Briten waren unglaublich herzlich. Bis dato unbekannte Herren sorgten für liebenswürdige Begegnungen, unterbrachen ihren wohl verdienten Feierabend, um die Tore am Clubhaus für irgendwelche Ruderleute aus dem fernen Norddeutschland aufzusperren. Dann gab es regelmäßig Komplimente für die tagelange Ruderpartie durch „good old England“ und nützliche Tipps für die jeweils kommende Etappe auf der seicht dahinfließenden Themse. Darunter jenen, auf keinen Fall an dem kilometerweiten Parkgelände anzulegen, das sich am dritten Tag der Tour gleich hinter Windsor anschloss.
Hinter den dunkelgrauen Mauern des gleichnamigen Castles, welche vom Ruderboot aus gut sichtbar wurden, schloss sich das Privatgrundstück Ihrer Majestät an. Sie selbst hielt sich dort – wie nur zwei Tage später auch durch die Weltpresse gehen sollte – derzeit nicht auf: Anstatt der Königlichen Standarte, die die Anwesenheit der Monarchin nach außen proklamiert hätte, wehte am überragenden Rundturm Keep lediglich der Union Jack.
Ein wasserseitiger Übertritt auf das königliche Areal stellte dagegen „ein Vergehen vom Range einer schweren Straftat“ dar. Ruhe hatten die Royals dort dennoch nicht, denn alle 30 Sekunden tauchten dröhnend im Tiefflug die Düsenflieger vom nahen Airport Heathrow auf. Das Vereinigte Königreich blieb nahezu rund um die Uhr über sein wichtigstes Luftdrehkreuz mit der ganzen Welt verbunden.
In der Peripherie einer Weltmetropole
Ein Stück stromaufwärts gab es die Mauern von Eton zu bewundern. Die Internatsschule für junge Herren der Gesellschaft hatte einen ausgezeichneten Leumund und passte in die Nachbarschaft diverser Pferderennbahnen, Golf- und Tennisplätze sowie Herrenhäuser mit immer schöneren Punkten für die besten Aussichten auf den Fluss. Stromabwärts erschienen erst das schwimmende Studio der britischen Rock-Ikone David Gilmour von Pink Floyd am Ufer vertäut, dann Luxushotels, die in die historischen Mauern eleganter Anwesen eingezogen waren – etwa das Fünf-Sterne-Quartier Danesfield House Hotel & Spa, hoch am Hang oberhalb der Themse gelegen. Es folgten die rostroten Mauern von Hampton Court Palace mit nicht minder opulenten Parkanlagen. Allmählich gelangten die beiden Ruderboote in den Dunstkreis der großen Metropole London. Vom Rudersitz aus kamen die ersten feuerroten Doppelstockbusse auf den Straßen in Sicht; in der Nähe stählerner Eisenbahnbrücken tauchte das Logo von London Transport als Zeichen für eine Untergrundstation der Tube auf.
Und auch die Themse selbst hatte sich seit der letzten Schleuse vor dem Fahrziel Twickenham gewandelt: Von nun an gab es eine Tide, die auf diesem Abschnitt eineinhalb bis zwei Meter betrug. Schon ab der nächsten Lock, kaum vier Kilometer weiter hinter Richmond, lag der Tidenhub gar bei fünf Metern.
Die Themse vor Westminster und Big Ben, mitten durch die Innenstadt einer Weltmetropole rudern – das hätte was! Doch anstatt sich mit einer dort vorherrschenden extremen Strömung, starkem Wellengang zwischen Ausflugsschiffen sowie den dafür benötigten mehrseitigen Anträgen zum Betrieb eines Ruderbootes bei den London Port Authorities zu befassen, bogen die ARVH-Crews samt britischer Unterstützung lieber für einen Tag in die übersichtlichen Gewässer des River Wey ab. Dieser mündet beim Ort Weybridge in die Themse und war auch namensgebend für den partnerschaftlichen Weyfarer Rowing Club.
Auf immerhin acht Kilometern und vier Schleusen konnten die weit gereisten Gäste die Langlebigkeit britischer Ingenieurskunst kennenlernen: Locks und Kanalisierung waren 1653 fertiggestellt worden. Es handelt sich um die ältesten Wasserstraßenbauten dieser Art im ganzen Königreich – ein Königreich, das just an jenem Nachmittag seine Monarchin verlieren sollte.
Am Tag davor hatte es noch in den Nachrichten geheißen, Ihre Majestät Queen Elizabeth II. fühle sich nicht gut, dann war vom eiligen Aufbruch der Windsors ins schottische Domizil der Regentin die Rede. Und als die beiden schwimmenden Doppel-Null-Agenten an Land unter Planen wieder im Trockenen lagen, wehten an den ersten Häusern bereits die Flaggen auf Halbmast. „God save the King“, heißt es fortan wieder in der Nationalhymne und Charles III. trat als neuer Monarch das royale Erbe im Land an.
Ein historisches Ereignis, das in den Stunden und Tagen danach indes wenig Einfluss auf den Alltag der Menschen nahm. In den Pubs spielte weiterhin die Musik, die Leute lachten und scherzten, genossen lovely Fish&Chips, Cornish Pasty, Chicken Pie und erfrischendes Indian Pale Ale.
Draußen war ein leichter Nebel aufgezogen und die Bäume entlang der Themse sahen im silbrigen Spiegelbild des Flusses geisterhaft aus.
Der Herbst war über Nacht hereingebrochen.